Algorithmische Empfehlungssysteme: Auffindbarkeit nicht dem Markt überlassen
Mehr als 42 Prozent schauen Bewegtbild im Netz – Veranstaltung der Medienanstalten zur Vorstellung des Digitalisierungsberichts 2017
Immer mehr Menschen schauen Bewegtbild im Netz: Bereits 42,2 Prozent der über 14-Jährigen in Deutschland nutzen Livestream oder Video-on-Demand (VoD). Mit rund 25 Millionen Nutzern haben die Videoangebote auf Abruf im Vergleich zum Vorjahr 2,5 Millionen zusätzliche Nutzer gewonnen. YouTube liegt mit 20,5 Millionen regelmäßigen Nutzern an der Spitze. Doch auch immerhin knapp 17,9 Millionen sehen mindestens einmal im Monat Angebote in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter.
Im Vergleich am schnellsten gewachsen sind Netflix (plus 64 Prozent) und Amazon Video (plus 23 Prozent). Amazon Video liegt mit 10,2 Millionen im Vergleich zu 10,7 Millionen regelmäßigen Nutzern nur noch knapp hinter den Mediatheken der privaten Sender. Diese Ergebnisse zur OTT-Nutzung stammen aus dem neuen Digitalisierungsbericht der Medienanstalten (hier abrufbar), der heute in Berlin präsentiert wurde.
Die neue Konkurrenz für die Fernsehsender stellt nicht nur Sendepläne infrage, sondern organisiert auch die Auffindbarkeit der Inhalte anders: algorithmische Empfehlungssysteme ersetzen zunehmend Senderlisten. Welche Bedeutung haben algorithmische Empfehlungssysteme für die Fernsehnutzung? Ändern sie den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit? Wo liegen angesichts dieses Trends die Chancen und Risiken für den klassischen Fernsehmarkt? Diese Fragen wurden heute bei der Veranstaltung der Medienanstalten zum neuen Digitalisierungsbericht diskutiert.
„Versteht sie, bevor sie uns verstehen!“, forderte Prof. Dr. Sebastian Stiller von der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig in einer spannenden Keynote zur Funktionsweise von Algorithmen. Um Fehlerquellen wie Manipulation oder Missbrauch zu vermeiden, müsse über die „Qualität von Algorithmen“ gesprochen werden. Berührungsängste aufgrund der Komplexität von Algorithmen seien unnötig. Stiller: „Über Kriterien wie die Qualität der Ausgangsdaten, die experimentell gemessene Zuverlässigkeit oder Ausreißer kann jeder diskutieren.“
Wie wichtig die Debatte über algorithmische Empfehlungssysteme als neuer Zugangsweg zu klassischen Inhalten ist, zeigte sich auf dem anschließenden Podium.
David Hein, Senior Manager TV Licensing bei der BurdaNews GmbH, die seit mehr als 20 Jahren das Printprodukt „TV Spielfilm“ auf den Markt bringt, berichtete von der Verlängerung der Marke ins Digitale: „Wir bieten heute eine Kombination aus bewährten redaktionellen sowie statistischen und nutzungsbasierten Empfehlungen an.“ Hein zeigte sich überzeugt, dass der Nutzer „nicht nur ein Empfehlungssystem einsetzt“.
Obgleich es ein „noch junges Produkt“ sei, spielen algorithmische Empfehlungssysteme bei dem Plattformanbieter Vodafone Kabel Deutschland bereits eine wichtige Rolle, berichtete Dr. Martin Rupp, Senior Legal Counsel Media Law. Das Ziel sei es, „dem Nutzer die Zeit, in der er Inhalte sucht, zu verkürzen“ und ihm die „Vielfalt der Angebote“ nahe zu bringen. Vorteil dabei für Rupp: „Auch ein kleiner Anbieter hat so die Möglichkeit, dass seine Angebote gefunden werden.“ Ähnlich sah das Dr. Andre Schneider, Head of Product Strategy der FUNKE Digital TV Guide GmbH, die Empfehlungstechnologien anbietet. Er sprach sich für eine „klare Kennzeichnung der Kriterien von Empfehlungssystemen“ aus.
Transparenz, Chancen- und Diskriminierungsfreiheit waren von allen Diskutanten geforderte Qualitätskriterien für Empfehlungssysteme. Marcus Dimpfel, Bereichsleiter Unternehmensentwicklung bei der Mediengruppe RTL Deutschland, äußerte in dem Zusammenhang die Sorge, „ob die Plattformanbieter wirklich im Sinne der Nutzer agieren“. Er forderte: „Public-Value-Angebote müssen bevorzugt auffindbar sein.“ Denn Auffindbarkeit sei der „Schlüssel zum Erfolg“. Hier gebe es Handlungsbedarf für die Politik, sonst könne man „im internationalen Wettbewerb nicht bestehen“.
Diesen Handlungsbedarf bei der Plattormregulierung betonte auch Thomas Fuchs, Koordinator des Fachausschusses Netze, Technik, Konvergenz der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM). Er sehe die Gefahr, dass sich Empfehlungsstrukturen entwickeln, die mehr die Marktmacht als das Nutzerinteresse spiegeln. Wer die Auffindbarkeit nicht dem Markt überlassen, sondern für Transparenz sorgen wolle, müsse dafür den regulativen Rahmen schaffen. Fuchs: „Das Ziel ist, dass die Medienanstalten in Zukunft auch Empfehlungssysteme anhand von transparenten Kriterien prüfen können.“